Lehrstuhl für Komparatistik
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Das Nein und das Nicht: Verneinung, Negativität, Leerstelle

28. Workshop am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft

10.02.2023 14:00 Uhr – 18:00 Uhr

Organisation: Roman Widder, Jenny Willner

10. Februar 2022 – Schellingstraße 3, Souterrain im Rückgebäude, Raum U104B


Block I: 14:15-15:45

Begrüßung
Jenny Willner, Roman Widder

Un-: Geschichte und Theorie einer Vorsilbe
(Nietzsche, Freud, Butler)
Wolfgang Hottner, Bergen

Verneinung ‚Made in Germany’
(Freud, Ferenczi, G.-A. Goldschmidt)
Jenny Willner, München

PAUSE

Block II: 16:00-18:00

Widerstand, Kastration, Leerstelle:
Die realistische Negation lesen (Gogol, Storm)
Roman Widder, Berlin

L’in-fini et l’ineffable vide:
Negation und Meskalin bei Michaux und Blanchot
Jan Knobloch, Köln

rien/vide. Im Herz der Negativität bei Marguerite Duras
Katharina Simon, München

Die Vorträge sind ca. 20 Minuten lang, für die restliche Zeit ist Diskussion vorgesehen

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Exposé

Mit einer berühmt gewordenen Formulierung hat Freud in seinem kurzen Aufsatz „Die Verneinung“ (1925) die Negation zu einem Ausgangspunkt psychoanalytischer Interpretationspraxis erhoben. Verneint der Patient bei der Traumwiedergabe eine bestimmte Assoziation – „Die Mutter ist es nicht“ –, so nimmt der Analytiker sich demgegenüber „die Freiheit, bei der Deutung von der Verneinung abzusehen“ und schließt rigoros: „Also ist es die Mutter“. Die Negation figuriert dabei als Signal für Bedeutsamkeit, mehr noch: Sie scheint gar einer Hermeneutik der Vereindeutigung den Weg zu bahnen. Gleichzeitig gilt bereits hier, was Freud später betonen sollte: Das Nein rührt an die Grenzen der Deutbarkeit. In Freuds „Konstruktionen in der Analyse“ (1937) gilt die Bejahung bloß als Verneinung höherer Ordnungsstufe, wobei die Verneinung selbst „ebenso vieldeutig und eigentlich noch weniger verwendbar“ sei als das Ja des Analysierten: „Die einzig sichere Deutung seines ‚Nein‘ ist also die auf Unvollständigkeit; die Konstruktion hat ihm gewiß nicht alles gesagt.“ Dieses dem Phänomen eigentümliche Schwanken zwischen Mangel und Überschuss, zwischen Vereindeutigungstendenz und Proliferation von Bedeutung, verweist weit über den psychoanalytischen Kontext hinaus. Gerade das Thematisieren eines Mangels bringt Produktivität ins Spiel: Über Negatives zu sprechen, heißt nicht unbedingt, auf etwas Nichtseiendes Bezug zu nehmen, sondern auch auf das Nichtvorhandensein von Etwas zu beharren. Und auch in der dialektischen Negation entfaltet das Negative eine produktive Kraft: Da bei Hegel die Negation immer schon gedoppelt auftritt, verbirgt sich hinter dem dialektischen Dreischritt eine „Tendenz zur Vervielfältigung“ der Negationen und die Suche nach einer „Abbreviatur unendlicher Negationsreihen“ (Patrick Eiden-Offe).

Die Analyse der spezifischen Negationsreihen literarischer Texte kann an solche theoretischen Perspektiven anschließen, erfordert jedoch eine darüber hinausgehende Sensibilität für die Vielfalt von textuellen Verneinungsoperationen, die deshalb im Zentrum des Workshops stehen: vom expliziten Nein über die geisternde Vorsilbe -un bis hin zur Frage nach der strukturierenden Funktion von Auslassungen, Leerstellen und Hohlräumen. Zur Diskussion steht unter anderem die Frage nach dem heuristischen Wert einer Philologie der Negation für eine literaturwissenschaftliche Methodendiskussion. Inwiefern lässt sich die Analyse des Verhältnisses des „Nichtgesagten“ und des „gesagten Nicht“ (Karl-Heinz Stierle) als Strukturphänomen literarischer Texte begreifen? Die Auseinandersetzung mit Spielarten der Negation eröffnet die Möglichkeit, das Verhältnis von Implizitem und Explizitem, von Latenz und Evidenz, von textimmanenter Unbestimmtheit und kontextualisierender Ausdeutung, von Hermeneutik, Konstruktion und Dekonstruktion zu diskutieren. Die Frage nach der Negation hat aber auch eine historische Dimension: Während Verfahren der Negativität gewöhnlich mit der literarischen Avantgarde in Verbindung gebracht werden, heißt es bei Hans Blumenberg nicht von ungefähr: „Unsere Fähigkeit zum Realismus beruht auf der Negation.“ Bereits der literarische Realismus verhandelt systematisch Momente des Widerstands, der Desillusionierung oder Ohnmacht und umkreist populäre Figuren der Resignation und des Neinsagens.

Dr. Wolfgang Hottner ist Associate Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bergen, Norwegen.

Dr. Jan Knobloch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität zu Köln. Negativität. Heidelberg: Winter 2021.

Dr. des. Katharina Simon ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Philologie der LMU München.

Dr. Roman Widder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dr. Jenny Willner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für AVL, LMU.