Kannitverstan. Zur Philologie zweifelhafter Existenzweisen
31. Workshop des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
19.07.2024 14:00 Uhr – 19:00 Uhr
„Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen, so gut als in Amsterdam Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herum fliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis.“
So beginnt eine der wohl bekanntesten Kalendergeschichten Johann Peter Hebels, die den Titel Kannitverstan trägt. In Anlehnung an Ernst Bloch, der einmal eine andere berühmte Geschichte Hebels, nämlich Unverhofftes Wiedersehen, die „schönste Geschichte der Welt“ nannte, ließe sich Kannitverstan als eine der schrägsten Geschichten der Welt bezeichnen. Hebel macht in ihr mit einem vom Erscheinungsraum der großen Stadt überwältigten Handwerksburschen vertraut, dem es inmitten der Wechselfälle von Reichtum und Armut, Glück und Unglück, Tod und Leben gelingt, sich zu orientieren, indem er sich an den Namen Kannitverstan hält. Herr Kannitverstan soll im Zentrum aller Dinge hausen. Allerdings entspringt der Name lauter Missverstehen und lässt allein ein Phantom das Zwielicht der Welt erblicken.
Hebels Geschichte übt so in eine abgründige Dialektik ein, in der Wahrheit und Irrtum, zweifelsfreie Gewissheit und zweifelhaftes Trugbild, Sein und Nichtsein fortlaufend die Plätze tauschen. Insofern könnte man in spekulativer Übertreibung den eigentümlichen Eigennamen Kannitverstan durchaus zum eigentlichen Namen der Literatur erklären, der als solcher recht treffend den Unbestand aller literarischen Dinge beim Namen ruft – all das Zweifelhafte, Schwierige, Halb-, Nicht und Nie-Verstandene, das Ambivalente und Abgründige, Denk- und Merkwürdige, das Fremde und Traumatische. Kurz: all das, was hegemoniale Begriffsachsen zum Brechen bringt und dem Herrn Cogito seine gerade erst hart erzweifelten Evidenzen gleich auch schon wieder entwendet haben wird. Eine von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie kritisch gemeinte Wendung gegen idealistische Himmelfahrtskommandos aller Art kann für diese literarische Derealisierungs- und Problematisierungskraft durchaus als affirmatives Losungswort recycelt werden: Literatur stellt wirklich etwas vor, ohne etwas Wirkliches vorzustellen!
Der Workshop wird einige signifikante Zweifels- und auch Verzweiflungsfälle in dieser Sache präsentieren. Er versteht sich dabei als kleine, minoritäre Hommage an einen ausgewiesenen und äußerst geneigten Leser alles Zweifelhaften und Seltsamen, einen philologischen Hausfreund von Gespenstern, Außerirdischen, Schäfern und defigurierten Globen: Robert Stockhammer.
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