Was ist Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft?
Der Name "Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft" passt in kein Formular und keine Adresszeile; er wird daher meist als AVL abgekürzt. Häufig findet man auch die Kurzbezeichnung "Komparatistik", die jedoch aus gleich noch zu erläuternden Gründen falsche Erwartungen weckt. Am liebsten würden wir das Fach einfach "Literaturwissenschaft" nennen – dies aber würde zu Missverständnissen führen, weil doch auch im Rahmen von Einzelphilologien (wie Germanistik, Anglistik, Lusitanistik, Albanologie usw.) Literatur erforscht wird. Ja, im heutigen Spektrum literaturwissenschaftlicher Fächer an der Universität erscheint es so, als bildeten diese Einzelphilologien den gleichsam naturgegebenen Normalfall, zu dem die AVL als eine begründungsbedürftige, komplementäre Ergänzung hinzutrete. Dies ist ein Effekt dessen, dass die Philologien an den Universitäten im Laufe des 19. Jahrhunderts institutionalisiert wurden, also in einem Kontext, in dem Nationen – und damit auch deren jeweilige Literaturen – die scheinbar selbstverständliche Bezugsgröße bildeten. Weil man davon ausging, dass im europäischen Regelfall Mitglieder einer Nation auch eine Sprache sprechen – Deutsche deutsch, Engländer englisch, Schweizer schweizerisch –, erschienen entsprechende Zweckgemeinschaften von Sprach- und Literaturwissenschaftlern unter Dächern wie "Deutsche Philologie" oder "Englische Philologie" als nicht weiter begründungsbedürftig; vor allem im Bereich der Lehrerausbildung sind diese Einheiten ja sogar noch heute funktional.
Die Vergleichende Literaturwissenschaft entstand vor diesem Hintergrund als bloße Ergänzung und bestätigte damit diesen Vorrang der Nationalphilologien ex negativo – als ginge es darum (seinerzeit ging es manchmal tatsächlich darum), nationale literarische Eigenheiten miteinander zu vergleichen. Weil heute gerade zur Debatte steht, ob Nationalliteraturen als naturgegebene erste Einheiten zu behandeln sind, wird man mit dem Adjektiv "vergleichend", und deshalb auch mit dem damit zusammenhängenden Fremdwort "Komparatistik", vorsichtiger umgehen. Das V im Namen der Disziplin ließe sich vielmehr, zunächst einmal, als "Vielfalt" oder "Verschiedenheit" auflösen, um damit festzuhalten, dass die Disziplin mit Texten aus möglichst vielen Epochen und in möglichst vielen verschiedenen Sprachen arbeitet. Dies setzt freilich voraus, dass man die entsprechenden Texte in ihrer Originalfassung lesen kann; Übersetzungen sollten im Idealfall nur dann ins Spiel kommen, wenn sie als solche Gegenstand der Untersuchung sind. Dem Spektrum der möglichen Gegenstände sind dabei allerdings physische Grenzen gesetzt, die von den Sprachkenntnissen der Studierenden und der Lehrenden abhängen. In Notfällen wird man dann doch zu Übersetzungen Zuflucht nehmen müssen, oder zu zweisprachigen Ausgaben, mit deren Hilfe dann auch der Originaltext wenigstens durchbuchstabiert werden kann. Entscheidend ist in diesen Notfällen, dass diese zumindest als solche reflektiert werden. Immerhin reicht – um den oft geäußerten Vorwurf, die AVL sei eurozentristisch, abzuschwächen – die Kenntnis auch nur der meistverbreiteten europäischen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch) aus, um literarische Texte aus sechs der (nach neuerer Zählung) sieben Kontinente zu lesen, da auch in Afrika, Asien, Australien, Nord- und Südamerika ziemlich viel Literatur in jeweils mindestens einer dieser Sprachen geschrieben wird.
Die Allgemeine Literaturwissenschaft besitzt eine andere Theoriegeschichte. Während ihre akademische Etablierung noch jünger ist als die der Vergleichenden Literaturwissenschaft, steht sie in Traditionen der Reflexion auf das Literarische, die – wie die antike und frühneuzeitliche Rhetorik und Poetik – weit älter sind als die Aufteilung in Einzelphilologien. Diese Traditionen ergänzen nicht einfach die Nationalphilologien, sondern stehen quer zu ihnen. Verfasser von Poetiken bis hinein ins 18. Jahrhundert hätten es ganz unplausibel gefunden, den Bereich ihrer Gegenstände nach den Sprachen aufzuteilen, in denen sie verfasst sind; wäre es nach ihnen gegangen, so hätte man das Feld der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen wohl in Subdisziplinen wie die Sonettologie, die Tragödientheorie oder die Epenkunde unterteilt. Aber auch jüngere Formen der Reflexion von Literatur und Kunst – Ästhetik und Hermeneutik seit dem 18. sowie die Literaturtheorie seit Beginn des 20. Jahrhunderts – beanspruchen, ihre Antworten nicht auf je partikulare sprachliche oder gar nationale Traditionen zu beschränken. Wenn die AVL daran anknüpft, so hält das A im Namen der Disziplin zunächst einmal nur fest, dass die Antworten auf die grundsätzliche Frage danach, was Literatur ist, nicht von vornherein und ohne ausdrückliche Reflexion auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkt werden. (Ein Literaturwissenschaftler im Sinne der AVL müsste, wenn er beispielsweise eine Studie zur Stadt in der Literatur des 20. Jahrhunderts schriebe und sich dabei auf die deutschsprachige beschränkte, zumindest gute Gründe für eine solche Beschränkung geltend machen können). "Allgemein" bedeutet nicht den Anspruch auf einen allgemeinen Begriff des Literarischen, der transhistorische Gültigkeit beanspruchen könnte. Vielmehr gehört noch die Geschichte der jeweiligen Literaturbegriffe zum Untersuchungsbereich der Allgemeinen Literaturwissenschaft; und gerade Literatur ist oft genug Advokatin des Singulären, das sich gegen Verallgemeinerungen sperrt. Theorien des Literarischen sind daher nicht, wie manche Einführungen nahelegen, "Methoden", mit denen der literarische Gegenstand unter Laborbedingungen untersucht werden könnte, sondern eher systematisierte Perspektiven, unter denen sich das Literarische jeweils ganz unterschiedlich darstellt. Eine begriffliche Grundausstattung aus dem Fundus der literaturwissenschaftlichen Basisdisziplinen Rhetorik und Poetik, aus Spezialdisziplinen wie Metrik oder Narratologie, aber auch aus unmittelbar benachbarten Bereichen wie der philosophischen Ästhetik, der Sprachtheorie und der Sprachwissenschaft ist unverzichtbar, um auf akademischem Niveau über Literatur nachzudenken; doch geht es dabei nicht allein darum, diese Begriffe anzuwenden, sondern immer auch darum, zugleich an diesen Begriffen selbst zu arbeiten, ihre Brauchbarkeit zu reflektieren und sie gegebenenfalls zu transformieren.
Die Aufgabe der AVL ließe sich also versuchsweise zusammenfassen als: Theoriegeleitete Untersuchung dessen, was Literatur war, ist oder sein könnte, auf der Grundlage von Texten aus möglichst vielen Epochen und in möglichst vielen verschiedenen Sprachen. Diese Untersuchung ist nicht von der Frage zu trennen, was nicht (oder nicht immer, oder nur aus einer bestimmten Perspektive) Literatur ist. Die Konzentration auf den Text selbst und die Erschließung seiner Kontexte hängen daher auf dialektische Weise zusammen. Historische oder andere Kontexte sind weder einfach aus literarischen Texten herauszulesen, noch spiegeln diese ihre Kontexte einfach ab. Und diese Kon-Texte sind zu großen Teilen ihrerseits Texte (Texte des Glaubens, Texte der Macht, Texte des Wissens, etc.). Für die Literaturwissenschaft bedeutet dies, dass sie, gerade wenn sie das Literarische zu fassen sucht, den Kontakt mit einer ganzen Enzyklopädie von Formen des Wissens suchen kann und in manchen Fällen sogar muss – mit wissenschaftlichen Disziplinen wie Botanik, Geographie oder Neurologie, aber auch weniger stark institutionalisierten Wissenspraktiken wie Alchemie, Psychoanalyse oder Ratgeberliteratur. Sie alle können zu einem bestimmten, im engeren Sinne literarischen Text in eine Relation treten, die in einer neuen Lektüre zu beschreiben ist. So entstehen immerneue Spielräume des Lesens, denn schließlich lautet die frohe Botschaft der Literaturwissenschaft: Eine letzte, die endlich richtige Lektüre gibt es nicht.
(Martin von Koppenfels/ Robert Stockhammer)