Lehrstuhl für Komparatistik
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Prof. Dr. Erika Greber

(15. 9. 1952 – 31. 7. 2011)

Nachruf

Als Martin Heidegger 1928 vom Tod Max Schelers erfuhr, hielt er in seiner Vorlesung spontan einen Nachruf auf seinen phänomenologischen Antipoden, der mit den Worten schloß: „Abermals fällt ein Weg der Philosophie ins Dunkel zurück.“ Eben dies hat die Komparatistik beim Tode Erika Grebers zu beklagen. Nicht, daß sie ihre Arbeitsschwerpunkte selbst erfunden hätte: Selbstreflexion in Literatur und Bildender Kunst – Intertextualität und Intermedialität – Interkulturalität – Literarische Spielformen – Feministische Literaturtheorie. Sie hatte nichts von einem Trendsetter. Vielmehr stand sie auf Konstanzer Schultern und war in Münchener, dann Erlanger Lehr- und Forschungskontexte eingebunden. Das Besondere an ihr war vielmehr die einzigartige Kombination dieser Schwerpunktsetzungen: der unerbittlichen Detailgenauigkeit und Prinzipienfestigkeit verbunden mit dem leichtsinnig Spielerischen; der Systematik der Fragestellungen mit der Unübersichtlichkeit der historischen Konkretion; der (um Humboldtsche Formeln aufzunehmen) „Einsamkeit und Freiheit“ ihrer literaturwissenschaftlichen Höhlenforschungen mit dem „ungezwungenen Zusammenwirken“ in kollektiven Lehr- und Forschungszusammenhängen; des disziplinären Rahmens der Komparatistik mit denen der Slavistik und Anglistik und schließlich der Germanistik.

Seit ihren Anfängen bevorzugte sie das Spielerisch-Minimalistische vor dem Großdimensioniert-Offiziellen: Pasternaks frühe Prosatexte statt seinem Doktor Živago; Meta-Sestinen und Sonettsonette statt Epen und Tragödien; Anagramme und Palindrome statt Hymnen und Elegien. Wollte man sie erschrecken, so brauchte man ihr nur zu drohen: Nun müsse sie endlich eine komparatistische Hauptvorlesung über Tolstojs Krieg und Frieden, Fontanes Vor dem Sturm und andere dickleibige historische Romane halten. Wie ihr Herz ja auch nicht für die Große Oper des 19. Jahrhunderts und die ‘Weltanschauungsmusik’ Strauss’, Pfitzners, Mahlers und Schönbergs schlug: nicht für Tschaikowskys, sondern für Puškins Evgenij Onegin.

So ist es kein Wunder, daß sie selbst keine dicken Bücher verfaßte. Außer einem, das ihr Lebensthema behandelt: Textile Texte: Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik (2002). Schon vor der Drucklegung verbreitete sich ihr Ruf in der deutschen wie in der internationalen Komparatistik und Slavistik und trug ihr außer zahlreichen Kongreßeinladungen eine einjährige Gastprofessur an der University of California, Irvine ein. Doch ihre genuine Publikationsform waren einläßliche Beiträge zu spezifischen Themen, wie dem Doppelgängermotiv im zeitgenössischen türkischen Roman, der Semiotik der Einbildung bei Rilke, der Rhetorik der Kürze in Puškins ‘Kleinen Tragödien’, dem Petrarkismus als Geschlechtercamouflage bei der Barockdichterin Sibylle Schwarz, der Kommentierung von Jakobsons strukturalen Analysen kirchenslavischer Eulogien oder Majakovskijs avantgardistischen Filmprojekten. Nicht zuletzt aber bewährte sie sich als menschenfischerische und verläßliche Organisatorin von Symposien und Mitherausgeberin von Fachzeitschriften (wie Poetica) und Sammelbänden, wie den beiden Festschriften für ihre akademische Lehrerin Renate Lachmann (Gedächtnis und Phantasma und Manier – Manieren – Manierismen) oder den beiden Münchener Sammlungen Materialität und Medialität von Schrift und Intermedium Literatur: Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft; wie auch ihr inhaltlicher und organisatorischer Beitrag zu der von Sebastian Donat und mir im Rahmen des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft durchgeführten Übersetzung und Kommentierung von Roman Jakobsons sämtlichen Gedichtanalysen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. So bleibt nur zu hoffen, daß die Berichtsbände der von ihr im April und November 2009 mit viel Liebe und Engagement geplanten und durchgeführten Erlanger Symposien Schwarz-weiße Welten: Schach in Literatur, Kunst und Kultur und Sonett-Künste: Mediale Transformationen eines klassischen Genres in nicht allzu ferner Zukunft als ihr wissenschaftliches Vermächtnis in Buchform erscheinen können.

Es war ein Glück für die Münchener Komparatistik wie überhaupt für ihre Sprach- und Literaturwissenschaften, daß wir Erika Greber, unmittelbar nach ihrer Habilitation, 1995 auf eine C3-Professur für „Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ berufen konnten. Denn nicht nur gelang es ihr hier, in Lehre und Forschung die Komparatistik eng mit der Slavistik zu verknüpfen, sondern sie engagierte sich rückhaltlos, wie im Institut und für den ersten geisteswissenschaftlichen Bachelor- und Master-Studiengang der LMU, so auch im Graduiertenkolleg Geschlechterdifferenz und Literatur und danach im Internationalen Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft (ProLit), in denen sie dann jeweils die Funktion einer Sprecherin übernahm. Um so mehr mußten wir alle beklagen, daß vor vier Jahren dem wohlverdienten Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Erlangen-Nürnberg nichts Vergleichbares vonseiten der LMU entgegengesetzt werden konnte, der sie immerhin – über enge persönliche Verbindungen hinaus – als Teilprojektleiterin der Münchener DFG-Forschergruppe Anfänge (in) der Moderne verbunden blieb.

Am kürzlichen Mimesis-Symposion zum zehnjährigen Bestehen von ProLit im Kloster Seeon hatte sie leider nicht mehr teilnehmen können, ja am letzten Tag mußten wir erfahren, daß nun ihr Leben zuende gehe. Jede menschliche Existenz ist einzigartig: das ist eine Binsenweisheit. Doch Erika Greber hatte in ihrer Generation nicht ihresgleichen. Welch ein Verlust!

Hendrik Birus


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