Lehrstuhl für Komparatistik
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1) Von welcher Unruhe ist dieser Brief getrieben?

Zunächst würde man vielleicht einfach antworten: Freud ist eifersüchtig. In einer literaturwissenschaftlichen Lektüre – und selbst in der eines Briefes – sollte jedoch nicht einfach über Gefühle gemutmaßt werden. Man würde so nicht nur voraussetzen, was sich im Text selbst nicht als solches artikuliert. Man würde sich damit auch einer möglichen Erkenntnis versperren, durch welche sprachlichen Formen und historischen Konventionen solche Gefühle je bedingt sind. In der zitierten Passage beschäftigen Freud unterschiedliche Umgangsformen, die er als „zärtliche Formen“ bezeichnet. Sie werden, so heißt es, in der postalischen Korrespondenz, im öffentlichen, aber auch im intimen Umgang gebraucht: Er spricht von „Schmeichelnamen“, von überschwänglichen Ausdrücken wie „Mein Martchen“ und „unendliche Liebe“, aber auch von „Gebärden“ und vom „Kuß“. Freud „mißfällt“, dass diese Zärtlichkeiten je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen annehmen können: „Dasselbe Wort“ kann zwischen ihm und seiner Verlobten Martha Bernays eine „unbegrenzte Hingebung“ bedeuten. In einer Begegnung oder Korrespondenz zwischen Freundinnen und Freunden vermag aber auch einfach eine „freundliche Gesinnung“ zum Ausdruck bringen. Wenn also Freud tatsächlich eifersüchtig sein sollte, so lässt sich dies zumindest in dieser Briefpassage auf eine sprachliche Ambivalenz dessen zurückführen, was „zärtliche Formen“ je nach Kontext bedeuten können. Freuds Verweis auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1774 macht zudem eines deutlich: Was im empfindsamen Freundschaftsdiskurs des 18. Jahrhunderts als Ton gepflegt wurde, hat zu Freuds Verlobungszeit Ende des 19. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit verloren.

[Vertiefend ließe Freuds Behauptung, dass sich die Höflichkeitsformen den jeweiligen „Moden des Zeitalters“ anpassen, mit Blick auf Norbert Elias’ Studie Über den Prozess der Zivilisation von 1982 diskutieren, die sich unter anderem auch mit dem historischen Wandeln von Höflichkeitsformen beschäftigt.]