Lehrstuhl für Komparatistik
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Sigmund Freud: Ein Brief an Martha Bernays

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Uns liegt ein Brief vor, den Sigmund Freud am 8. Juli 1882 an seine Verlobte Martha Bernays geschrieben hat. Zuvor hatte Freud bereits die Umgangsformen kritisiert, die seine Verlobte in der Freundschaft zu anderen gepflegt hatte. Anschließend heißt es:

„Sieh es einmal anders, teures Mädchen. Die zärtlichen Formen mögen früher bedeutungslos gewesen sein, sie sind es jetzt nicht mehr, seitdem sie für uns das einzige Mittel sind, uns unsere Liebe auszudrücken. Alles, was Du mir Herzliches zu tun oder zu sagen gestattest, ist ja symbolisch; die Schmeichelnamen, die mir sonst zum Ekel wären, bedeuten uns eine unbegrenzte Hingebung und Entschlossenheit, einander alles zu opfern; der Kuß, den Du mir schenkst, sagt mir, dass Dein zarter Leib mir kein Geheimnis verbergen möchte; die armseligen Mittel, mit denen Menschen einander ihre freundliche Gesinnung bezeugen, sind auch die unseren, aber uns bedeuten sie mehr, die Kupfermünze hat Goldwert in unserem Verkehr. Weil dem so ist, wird auch die zärtliche Form aus dem Verkehre Liebender nie verschwinden, und wenn die Geliebte Stiefel und Sporen tragen, im Parlamente sitzen und auf dem Katheter vortragen sollte, nicht die völlige Gleichstellung beider Geschlechter wird an dieser Sitte etwas ändern. In der Freundschaft, wo dieser unermeßliche Hintergrund fehlt, hat der Verkehr seit jeher sich der Mode des Zeitalters angepaßt. Fritz schreibt, wie Werthers Zeitgenossen ‚mein Martchen’ und spricht von ‚unendlicher Liebe’; es gab steifere Zeiten, wo Madame und Monsieur und votre très humble serviteur genau die nämliche Innigkeit eines Verhältnisses ausdrücken konnten. Solche Überschwänglichkeit des Ausdrucks und der Gebärde, wie sie Fritz beliebt, mißfällt mir nun aus zwei Gründen. Zunächst an und für sich, weil es unserer Zeit mehr angemessen ist, mit den einfachsten Mitteln und dem geringsten Aufwand von Gefühlsregungen hauszuhalten, und dann, weil ich glaube, daß es auch Dir peinlich sein muß, wenn Du Dir bei denselben Worten und denselben Gebärden nicht dasselbe denken darfst. Es ist verwirrend, und der Mensch soll es nicht tun, dasselbe Wort, das ihm als Losung und als Heilwort dient, als Phrase zu gebrauchen, dieselbe Handlung einmal als eine gleichgültige, einmal als eine zauberkräftige zu verrichten. Etwas von dem Unwert des einen Mals teilt sich leicht den anderen mit und umgekehrt.“

Bernays, M. & Freud, S. 2011, Brautbriefe. Sei mein, wie ich mir’s denke, Bd. 1, hrsg. v. G. Fichtner, I. Grubbrich-Simitis, & A. Hirschmüller, Fischer, Frankfurt a.M., S. 173f.

Mögliche Fragen

1) Von welcher Unruhe ist dieser Brief getrieben?

Eine mögliche Antwort.

2) Wie interpretieren Sie die wiederholte Rede vom „Wert“ in dieser Briefpassage?

Eine mögliche Antwort.

3) Welche Grundannahmen zum Geschlechterverhältnis lassen sich in dieser Passage freilegen?

Eine mögliche Antwort.