Lehrstuhl für Komparatistik
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2) Wie interpretieren Sie die wiederholte Rede vom „Wert“ in dieser Briefpassage?

Freud vergleicht die „zärtlichen Formen“ mit Münzen, die zwischen den Menschen im Umlauf sind. „Worte“, „Gebärden“, „Schmeichelnamen“, ja die innerste „Gefühlsregungen“ hätten demzufolge stets eine allgemein verbindliche Prägung, mit der ein bestimmter „Wert“ zum Ausdruck gebrach werden soll. Hier verdeutlicht sich erneut, wie die Artikulation von „Gefühlsregungen“ von kulturell tradierten Formen abhängig ist. In der vorliegenden Passage scheint Freud dem Münzen-Vergleich so etwas wie eine Zeichentheorie zu unterlegen. Er unterscheidet dabei zwischen zwei unterschiedlichen „zärtlichen Formen“: Erstens eine Münze, die innerhalb der Freundschaft im Umlauf sei: Freud zufolge ist sie „bedeutungslos“, ihr Nominalwert entspricht dem Materialwert der Münze. Demnach würde etwa eine Begrüßungsformel in einem freundschaftlichen Brief nichts anderes als eben eine Begrüßung bedeuten. Zweitens eine Münze, die lediglich im „Verkehre Liebender“ im Umlauf sei: Ihr „Wert“ gehe über ihren Materialwert hinaus, die „Kupfermünze“ habe hier nicht Kupfer-, sondern „Goldwert“. Diese „symbolische Formen“ sollen Freud zufolge über die jeweilige Geste hinausgehen und eine „unbegrenzte Hingebung“ zum Ausdruck bringen. Mit jedem „zärtlichen“ Wort soll sich – so jedenfalls Freuds Hoffnung – immer auch die „Liebe“ zwischen den „Liebenden“ bestätigen. Da sich jedoch dieser Passage zufolge beide Münzen ein und dieselbe Form teilen, lässt sich nie mit Gewissheit entscheiden, wann man den Materialwert des Kupfers und wann den Nominalwert des Goldes, wann die „Gebärde“ und wann seine „symbolische Bedeutung“, wann man eine „Phrase“ und wann eine „Zauberformel“ in den Händen hält: „Etwas von dem Unwert des einen Mals teilt sich leicht den anderen mit und umgekehrt“.

[Freuds Vergleich ließe sich auf mit einem Blick auf Karl Marx’ Das Kapital von 1867 weiter befragen. Marx ist einer der ersten Ökonomen gewesen, der auf ein instabiles Verhältnis zwischen Kurantmünzen (Münzen, bei denen der Nominalwert dem Materialwert entspricht) und Scheidemünzen hingewiesen hat (Münzen, deren Nominalwert höher ist als der Materialwert). Vor diesem Hintergrund ließe sich etwa fragen, welcher Zusammenhang zwischen der Geschichte von Gefühlen und der Geschichte der Ökonomie besteht.]