Lehrstuhl für Komparatistik
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1) Was fehlt?

Es fehlt der Buchstabe ‚e‘. Kein einziges mal wird dieser häufige Vokal in Georges Perecs Roman La disparition verwendet. Das konsequente Auslassen eines Buchstabens ist ein sehr altes poetisches Verfahren, das schon in der Antike praktiziert wurde. Man bezeichnet die aus dieser Schreibpraxis entstehenden Texte als Lipogramme: ‚Leípein‘ heißt ‚weglassen‘, ‚gramme‘ bedeutet ‚Buchstabe‘. Nach einer Hochphase im Barock wurden immer seltener Lipogramme geschrieben. Was hat also den Autor Georges Perec im Jahr 1969 dazu bewegt, gleich einen ganzen Roman als Lipogramm zu schreiben? Perec war Mitglied eines Künstlerkollektivs, das den Namen Oulipo trägt. Oulipo steht für: Ouvroir de littérature potentielle, auf deutsch: Werkstatt für potentielle Literatur. Das Ziel der Oulipoten ist es, das Potenzial sprachlicher Ausdrucksformen so weit wie möglich auszuschöpfen. Dabei setzten sie nicht auf ihre künstlerische Inspiration, sondern auf die Sprache selbst. Formale Einschränkungen, wie zum Beispiel das Weglassen eines Buchstabens, sollen den Schriftsteller zu Formulierungen zwingen, die ihm normalerweise nicht in den Sinn kämen.

Im Fall von La disparition ist dies vorbildhaft gelungen. Der Roman erzählt eine verschlungenen Kriminalgeschichte, deren komplizierten Verzweigungen sich nicht zuletzt aus der lipogrammatisch erzwungenen Lexik ergeben. In der vorliegenden Textpassage fallen vor allem altertümliche, nicht mehr gebräuchliche Ausdrücke wie „fabliau“ anstelle von ‚histoire‘ bzw. ‚fable‘ oder „layon“ anstelle von ‚chemin‘ auf. Es haben sich durch die lipogrammatische Methode auch fremdsprachige Wörter in den Text eingeschlichen. So tauchen im Text das deutsche Wort „Bildungsroman“ sowie der englische Satz „That's right!“ auf. Diese beiden Stellen sind für eine Interpretation besonders aufschlussreich: Das erste Wort ist ein literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriff, der den Leser dazu anregt, über die Gattung von La disparition nachzudenken. Unmittelbar nachdem Aignan auf englisch „That's right!“ ausgerufen hat, fragt er sich, warum er englisch und nicht französisch spricht. Die fremdsprachlichen Stellen markieren somit, dass hier etwas Ungewöhnliches in und mit der Sprache vorgeht.