Lehrstuhl für Komparatistik
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2) Fällt Ihnen ein anderer Text ein, in dem das Rätsel einer Sphinx über Leben und Tod entscheidet?

Das Motiv der rätselstellenden Sphinx stammt aus dem antiken Mythos von König Ödipus. Um die Stadt Theben von Plagen zu befreien, muss das Rätsel einer Sphinx gelöst werden. Nur wenige wagen sich vor, da ein Scheitern mit dem sofortigen Tod bestraft wird. Ödipus ist mutig und traut sich. Er kommt von weither aus Korinth. Nachdem ihm das Orakel von Delphi prophezeite, er werde seinen Vater töten und mit seiner Mutter schlafen, verließ er sein Elternhaus und wanderte bis nach Theben. Ödipus weiß nicht, dass er bei Stiefeltern groß geworden ist und seine leiblichen Eltern der König und die Königin von Theben sind. La disparition ist mit dieser Geschichte über verschiedene Motive verbunden. Die ausgewählte Textpassage bezieht sich vor allem auf denjenigen Teil des Mythos, in dem Ödipus das Rätsel der Sphinx löst. Es lautet: „Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“ Ödipus gibt die richtige Antwort: „Der Mensch!“

In La disparition fragt die Sphinx nach etwas anderem, nämlich nach einem eigenartigen Körper, der rund ist, aber nicht ganz geschlossen und mit einem geraden Strich endet. Was könnte das sein? Der klein geschriebene Buchstabe ‚e‘! Die Sphinx provoziert also eine Abweichung von der lipogrammatischen Regel. Aignans Antwort „Moi!“ stimmt im Prinzip mit derjenigen des mythischen Ödipus überein, ist Aignan doch nichts anderes als ein Mensch. Wenn man an dieser Stelle weiterüberlegt, dann fällt einem möglicherweise noch ein anderer Text ein, auf den in La disparition angespielt wird: auf Freuds Theorie vom Ödipus-Komplex. Geht man diesen Anspielungen und Verbindungen nach, so wird sich deren zentrale Rolle für die Deutung des Textes zeigen. In der Literaturwissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von Intertextualität.